Verwendet man marktwirtschaftliche Aspekte als Grundlage für die Definition von „Arbeit“, so schließt das in vielen Fällen Menschen mit Behinderung aus. Um das Konzept Inklusion jedoch umzusetzen, muss man auch Menschen, die kaum wirtschaftlich verwertbare Leistungen erbringen, die Teilhabe am allgemeinen Arbeitsleben ermöglichen. Denn „Die Teilhabe setzt kein Mindestmaß an Fähigkeiten voraus“, so die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft. Und das Recht auf Teilhabe in den wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen beinhaltet auch das Recht auf Teilnahme am Arbeitsleben.

Junge Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, die den Förder- und Betreuungsbereich (FuB) in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) besuchen, haben heutzutage vielfach Erfahrungen in der „normalen“ Welt durch den Besuch inklusiver oder integrativer Kindergärten und Schulen gesammelt und fordern heute mehr als die Unterbringung in einem FuB. Der FuB bildet zwar theoretisch die Vorstufe zur Arbeit in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung und indirekt dem ersten Arbeitsmarkt, führt jedoch in der Praxis kaum weiter. Daher appelliert Klaus Kistner, Leiter des Vereins Arbeit und Begegnung e.V.: „Unsere Einrichtungen müssen Ausgangspunkt der Teilhabe sein, nicht deren Endpunkt.“ Gefragt sind Möglichkeiten der Mitarbeit in Betrieben in der unmittelbaren Umgebung des FuB.

Im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung bewegen sich Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf nicht viel in ihrem Sozialraum. Die Arbeit außerhalb der Einrichtung wirkt dem entgegen und ermöglicht ihnen den Zugang zu einem erweiterten Umfeld.

Die Praxis zeigt, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf von der Teilhabe an der Arbeitswelt profitieren. Neben persönlichen Erfahrungs- und Lernentwicklungen finden sie sich in neuen sozialen Rollen wieder, erleben das Gefühl der Beteiligung und werden ein integrierter Teil des allgemeinen Sozialraums. Sie werden im Sozialraum wahrgenommen, und es kommt zum Austausch mit Menschen, denen sie ansonsten nie begegnet wären.

Heinz Becker, Lehrbeauftragter der Hochschule Bremen, fordert daher eine Neuorientierung der FuB: „Der Weg führt weg von der Institutionszentrierung […] hin zur Institution […], die als Experte für die Personzentrierte Teilhabe am Arbeitsleben ihre Funktion im Gemeinwesen hat. Und nicht als Förderstätte in der Hierarchie des Hilfesystems irgendwo hinter der Werkstatt.“

Noch gibt es dafür keine gesetzlichen Rahmenbedingungen, daher liegt es einerseits an den Leitungskräften zu handeln und bestehende Strukturen zu hinterfragen; andererseits sind aber besonders die Mitarbeiter*innen an der Basis gefordert, den geforderten Wandel zu realisieren. Stehen bisher Förderung und Betreuung von Einzelpersonen im Mittelpunkt, erweitert sich deren Aufgabenfelder hin zur Schnittstelle nach außen. Sie sollten sich im Sozialraum der Menschen mit Behinderung auskennen bzw. bereit sein, diesen kennenzulernen. Daneben ist ihr Einfallsreichtum gefragt, denn Arbeitsangebote sind in der Regel nicht vorhanden, sondern müssen erst geschaffen und gestaltet werden.

Die Fachkräfte der FuBs besetzen Schlüsselpositionen, denn sie kennen die Menschen, die sie betreuen am besten und wissen um deren individuelle Stärken. Diese besonderen Fähigkeiten, wie z.B. Sortieren, Zählen, Zerreißen oder Festhalten, bilden den Ausgangspunkt für Ideen.

Der entscheidende Schritt besteht in der Suche nach einem Kooperationspartner im Sozialraum der FuBs. Hier ist vor allem Eigeninitiative gefragt, wobei die Akquise am besten persönlich vor Ort erfolgt. In Frage kommen z.B. Unternehmen und Geschäfte aller Art, Praxen, öffentliche Einrichtungen, Vereine oder Kirchengemeinden. Oft ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit bereits vorhanden, es erfordert lediglich die persönliche Ansprache, um etwas zu initiieren.

Da es nicht darum geht, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf eine bezifferbare Leistung erbringen, sondern die Erfahrung von Selbstwirksamkeit im Fokus steht, erfolgt keine Vergütung der Arbeit. Daher sind keine vertraglichen Rahmenbedingungen notwendig, was jeden formellen Aufwand überflüssig macht. Das gibt allen Beteiligten einen großen Handlungsspielraum und viel Raum für Kreativität.

Hier einige erfolgreiche Beispiele aus der Praxis: Gartenarbeiten, Pflege von Sportplätzen, Einsammeln und Entsorgen von Altglas und Altpapier, Post wegbringen, Verteilen von Flyern, Reinigen von Schildern, Zerreißen von Kartons, Ausliefern von Blumensträußen, Serviettenfalten für Restaurants, Hundeausführen, Aussortieren fehlerhafter Teile, Staubsaugen in Handwerksbetrieben, Regale auffüllen, Abpacken, Autos waschen.

Auch die Hagsfelder Werkstätten und Wohngemeinschaften Karlsruhe gGmbH (HWK) stellen sich der neuen Herausforderung. Auf Initiative von Christina Scheipers, Leiterin des FuB der Betriebsstätte Ettlingen, wurde vor kurzem ein Projekt gestartet, das auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf das Arbeiten außerhalb des FuB ermöglicht.

Christiane Scheipers betrat mit ihrem Vorhaben Neuland und stand zunächst vor der Herausforderung, geeignete Arbeitsplätze zu finden. Sie suchte den Kontakt zu Heiko Iben, Mitinhaber des Gartencenters Iben. Für sein Unternehmen sprachen zwei Gründe: Erstens war die Lage ideal, denn das Gartencenter befindet sich in unmittelbarer Nähe; zweitens beschäftigt Iben immer wieder Praktikanten mit Behinderungen wie z.B. vom Inklusionsunternehmen worKA, und ist daher aufgeschlossen. Er stimmte sofort zu: „Das war gar keine Überlegung. Ich fand das super.“Auch die beiden FuB-Mitarbeiterinnen Christina Eller und Diana Müller zeigten sich von der Idee begeistert. Gemeinsam überlegte man, wer von den Menschen im FuB in Frage kommen könnte, und die Wahl fiel auf Jenny und Lukas (Namen geändert). Nachdem der Praxistest vor Ort ergab, dass die beiden „richtig Spaß“ an der Arbeit hatten, lief das Projekt an. Jenny und Lukas betätigen sich nun dauerhaft einmal in der Woche für eine Stunde in der Gärtnerei. In 1:1-Betreuung leiten Eller und Müller die beiden an und assistieren bei Bedarf, wobei das Ziel ist, soweit es geht eigenständig zu arbeiten: Beispielsweise topfen sie um, sortieren und stapeln Steine oder räumen und fegen die Pflanztische.

Wenn der kleine Arbeitstrupp eintrifft, ist schon alles hingerichtet. Diese Vorbereitung erfordert zwar manchmal etwas Aufwand durch die Mitarbeiter des Gartencenters, doch empfindet Iben den Beitrag von Jenny und Lukas durchaus als hilfreich: „Es ist eine Erleichterung, auf jeden Fall.“, denn die beiden übernehmen notwendige Tätigkeiten.

Ganz nach dem Motto „Alles kann – nichts muss“ wird ohne Leistungsdruck gearbeitet – so viel wie eben möglich ist. Da viel Konzentration von ihnen gefordert wird, ist es für die Teilnehme*innen dennoch anstrengend. Die Beschränkung der Arbeitszeit auf eine Stunde beugt langfristig einer Überbelastung vor.

Es ist offensichtlich, dass das Ziel Selbstwirksamkeit zu erfahren, im Fall von Jenny und Lukas erreicht ist. Für die beiden ist die Ankündigung „Wir gehen zu den Blumen“ ein Grund zur Freude. Sie genießen die mit ihrer Arbeit verbundene Anerkennung und sind stolz auf ihre Leistung; und Jenny gibt immer wieder zu verstehen „Das habe ich gemacht!“.

Es ist wünschenswert, dass das Projekt in Ettlingen nicht das erste und bisher einzige seiner Art bleibt. Mit der Öffnung des Sozialraums für Menschen mit Behinderung durch eine regelmäßige und dauerhafte Betätigung innerhalb der Arbeitswelt und außerhalb von Einrichtungen, ermöglicht man nicht nur die positive Entwicklung des Einzelnen, sondern vollzieht einen notwendigen und überfälligen Schritt auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft.


Foto:
HWK/Petra Fliege